Schwerin – In deutschen Städten leben Ärmere und Wohlhabendere immer stärker voneinander getrennt und jeweils konzentriert in bestimmten Stadtteilen. Das gilt auch für Mecklenburg-Vorpommern.
„Nachdem eine bundesweite Studie 2018 zeigte, dass diese soziale Entmischung auch in Schwerin und Rostock deutlich festgestellt werden kann, haben wir den Autor dieser Studie beauftragt, die Situation in Mecklenburg-Vorpommern genauer zu untersuchen und auf die größeren Städte des Landes insgesamt auszudehnen“, sagt der für Landesentwicklung und Wohnen zuständige Infrastrukturminister Christian Pegel. Das Ergebnis, die Studie zum Ausmaß der sozialräumlichen Spaltung in Mecklenburg-Vorpommern, stellte er heute mit Prof. Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum Berlin bei der Schweriner Landespressekonferenz vor.
„In ostdeutschen Städten war die Ungleichverteilung der ökonomisch Benachteiligten bereits 2005 höher als in Westdeutschland und stieg seither auch stärker“, fasst Helbig die Ausgangsdaten zusammen. Dabei wohnen die wirtschaftlich weniger Leistungsfähigen – die Prof. Helbig unter die Gruppe der „Ärmeren“ fasst und anhand der Zahl derer bestimmt, die Grundsicherung nach SGB II (umgangssprachlich Hartz IV) beziehen – häufig in Plattenbaugebieten am Stadtrand wie in Halle-Neustadt, Erfurts Norden, Jena-Lobeda oder am Großen Dreesch in Schwerin und in Rostock-Lütten Klein.
Für die M-V-Studie hat der Sozialforscher zunächst die Durchmischung in den sechs größten Städten des Landes untersucht. In Rostock, Schwerin, Greifswald, Stralsund, Neubrandenburg und Wismar lagen die SGB-II-Quoten in Stadtteilen mit hohem Plattenbau-Anteil 2005 bei rund 30 Prozent, in Nicht-Plattenbaugebieten hingegen bei unter 10 bis 15 Prozent. Seitdem sind die SGB-II-Quoten in den Nicht-Plattenbaugebieten aller Städte zurückgegangen – in Rostock gar um 60, in Wismar um 40 Prozent. Die SGB-II-Quoten in den Plattenbauten sanken aber nur um ca. 20 Prozent, in den anderen vier Städten um höchstens 10 Prozent. „Das heißt, die allgemeine gute wirtschaftliche Entwicklung kommt in den bereits benachteiligten Gebieten kaum an“, sagt Helbig.
In allen sechs Städten sind die Plattenbau-Stadtteile sozial ungünstiger zusammengesetzt als die Nicht-Plattenbaugebiete. Ausnahmen bilden innenstadtnahe Plattensiedlungen wie Rostocks Südstadt, Schwerins Weststadt und Neubrandenburg-Süd mit einer geringen Armutsquote.
„Detailliert betrachtet ist die Situation aber von Stadt zu Stadt unterschiedlich“, sagt Marcel Helbig und zählt auf: „In Wismar sind die sozialen Unterschiede zwischen Platten- und Nicht-Plattenbaugebieten vergleichsweise gering. In Neubrandenburg und Stralsund leben Ärmere geballt in den Plattenbaugebieten, während andere Stadteile vergleichsweise sozial gemischt sind. In Greifswald und Schwerin zeigt sich neben den hohen SGB-II-Quoten der Plattenbaugebiete eine zunehmende Entmischung anderer Stadtteile, in denen die Zahl der Ärmeren abnimmt. Und in Rostock findet die soziale Entmischung vor allem im Stadtzentrum und in Warnemünde statt, wo kaum noch SGB-II-Empfänger wohnen.“ Dies könne als Indiz für überdurchschnittlich hohe Mieten in diesen Stadtteilen gewertet werden.
Zwischen 2014 und 2017 kam es zu einer weiteren Verschärfung der Segregation vor allem in Schwerin und, weniger stark, in Rostock. „Dies steht in engem Zusammenhang mit dem Anstieg der Zuwanderung 2015 und 2016. In vielen deutschen Städten stiegen die Immigrationsquoten in diesen Jahren vor allem in Stadtvierteln mit erhöhten SGB-II-Quoten“, begründet Marcel Helbig.
Typisch für ostdeutsche Städte ist eine starke Konzentration der Über-65-Jährigen in den Plattenbaugebieten. Ein großer Teil dieser Generation zog bis Mitte der 1970er Jahre in die damals neuen Großwohnsiedlungen – und wohnt dort häufig bis heute, was zu einem hohen Altersdurchschnitt im Stadtteil führt. Die Unterschiede im Anteil älterer Bewohner zwischen Plattenbau- und Nicht-Plattenbaugebieten in M-V hingegen sind bis 2017 in allen betrachteten Städten deutlich gesunken“, nennt Prof. Helbig ein positives Ergebnis seiner Untersuchung.
Bisher haben sich Studien zur sozialen Segregation in Deutschland auf große und mittelgroße Städte fokussiert. Die Studie für M-V geht auch der Frage nach, ob Entmischung auch die eher ländlich geprägten Küstenregionen in M-V betrifft. Dazu hat Marcel Helbig für die Regionen um Rügen, Usedom, den Darß, Kühlungsborn und Boltenhagen untersucht, wie sich SGB-II-Empfänger über die Gemeinden verteilen.
Das Ergebnis: Die soziale Entmischung in diesen Küstenregionen ist für eher ländlich geprägte Gebiete vergleichsweise hoch. Für alle untersuchten Regionen außer Boltenhagen ist die Segregation in den vergangenen Jahren auf das Niveau von Wismar und Stralsund gestiegen – und entspricht somit dem Bundesdurchschnitt der größeren Städte. In Gemeinden direkt an der Ostseeküste finden sich weniger SGB-II-Bezieher als weiter im Landesinneren. „Dies kann bedeuten, dass etwa Mitarbeiter in der Touristikbranche stärker ins Umland verdrängt werden“, interpretiert Marcel Helbig das Ergebnis.
„Soziale Entmischung und die Ballung ökonomisch benachteiligter Familien in bestimmten Stadtgebieten haben vielfältige negative Folgen: Der Bildungserfolg von Kindern leidet, die Arbeitsmarktchancen der Betroffenen oder auch die Wahlbeteiligung sinken“, nennt Helbig drei Beispiele. Handlungsmöglichkeiten sieht er u.a. in einer gezielten Wohnungsbaupolitik.
„Hier sind wir bereits seit einigen Jahren dabei, indem wir zum Beispiel seit 2017 wieder sozialen Wohnungsbau fördern. Das Ziel ist auch, dass in teureren Stadtvierteln bezahlbare Wohnungen entstehen“, sagt Infrastrukturminister Christian Pegel. Dieses 2017 neu aufgelegte soziale Wohnungsbauprogramm „Neubau sozial“ ist 2019 weiterentwickelt worden und bezuschusst jetzt im sogenannten auch zweiten Förderweg den Bau neuer Wohnungen für Haushalte mit mittleren Einkommen. „Damit wollen wir auch vermeiden, dass wir nur für kleinere Einkommensgruppen den Bau neuer Wohnungen fördern und damit eine soziale Entmischung sogar noch verstärken – zumal auch mittlere Einkommensgruppen in einigen Wohnungsmärkten die Preise bei Neuvermietungen nur noch schwer bezahlen können“, begründet Pegel.
Neben den Wohnungen spielt das Umfeld eine wichtige Rolle für die soziale Durchmischung der Viertel. „Gute Schulen, kostenloser Nahverkehr für Schüler, Freizeitangebote“, nennt Prof. Helbig Beispiele. „Die Kommunen in M-V haben ihre Plattenbaugebiete in den großen Städten des Landes seit Anfang der 1990er Jahre mit Hilfe der Städtebauförderung stark aufgewertet. Allein in die Großwohnsiedlungen der untersuchten Städte flossen seit 1993 rund 293 Millionen Euro Finanzhilfen von Bund und Land aus der Städtebauförderung“, sagt Christian Pegel und fügt hinzu: „Das hat dazu beigetragen, dass etwa in Rostock-Groß Klein, Rostock-Schmarl sowie in Neubrandenburg-Oststadt der Wegzug gestoppt und der Leerstand nahezu beseitigt werden konnte.“ Schwerin hat im Stadtteil Mueßer Holz im vergangenen Jahr mit dem „Campus am Turm“ ein Begegnungszentrum eröffnet, in dem eine Zweigstelle der Musikschule, die Außenstelle der Volkshochschule, das Stadtteilbüro und interkulturelle Vereine untergebracht sind. Ähnliche Begegnungszentren gibt es längst auch in den Plattenbaugebieten anderer Städte, so etwa die „Schwalbe“ in Greifswald-Schönwalde seit mehreren Jahren.
„Die Studie zeigt nun, dass die Anstrengungen hier weiter verstärkt werden müssen und hilft – hoffentlich – den kommunalen Entscheidungsträgern, die Stellschrauben für eine Stadtbaupolitik hin zu bunt durchmischten Wohnungsquartieren zu finden“, nennt Pegel ein weiteres Ziel der Untersuchung.
Die Landesregierung wolle zudem prüfen, wie sie durch das Ändern von Förderrichtlinien den Entmischungstendenzen entgegen wirken kann. Christian Pegel nennt ein Beispiel: „Indem etwa für die Städtebauförderung privater Bauvorhaben in begehrten Lagen eine anschließende Belegungsbindung und eine an den Maximalmieten der Förderrichtlinie ‚Neubau sozial‘ orientierte Mietpreisobergrenze zur Fördervoraussetzung gemacht wird.“